1. Oktober 2015

Rede der Stadtverordneten Christiane Hinninger zum Antrag „Gemeinsame Verantwortung für Flüchtlinge in Wiesbaden“

Rede der Stadtverordneten Christiane Hinninger zum Antrag der Fraktion Bündnis90/Die GRÜNE – TOP 4 „Gemeinsame Verantwortung für Flüchtlinge in Wiesbaden“, in der Stadtverordnetenversammlung am 1. Oktober 2015

 

Mit unserer Initiative zu einem gemeinsamen Antrag wollten wir

  • ein Zeichen der Gemeinsamkeit zusetzen
  • das großartige Engagement der Bürgerinnen und Bürger aufnehmen und ihnen danken
  • eine Orientierung geben angesichts der großen Aufgabe

In der Diskussion hat sich aber gezeigt, dass es offensichtlich nicht so einfach ist.

Hinsichtlich einer ganzen Reihe von Maßnahmen besteht Einigkeit. Dies gilt insbesondere für die Punkte Sprachkurse, Förderung der schulischen und beruflichen Ausbildung, die Integration in den Arbeitsmarkt und die medizinische Versorgung, inklusive psychotherapeutischer Angebote. Und dies gilt auch für die Frage der finanziellen Verantwortung von Bund und Land.

Dennoch ist ein gemeinsamer Antrag nicht zustande gekommen weil die CDU namentlich Herr Dr. Franz. nicht auf die Forderung verzichten wollte, zum Übereinkommen von Dublin zurück zu kehren. Ich bedaure dies für die Sache, denn dies ist das falsche Signal. Eine Rückkehr zu einer Regelung, nach der Flüchtlinge bei den Ländern abgeladen werden, die nun mal am Rande der EU liegen und zudem zu den ökonomisch schwächeren Staaten gehören, ist keine Lösung, ist kein Schritt nach vorn.

Dass diese Länder überfordert sind, haben wir am Beispiel Italien wie auch Griechenland gesehen. Es ist auch ungerecht und nicht mit dem europäischen Gedanken unvereinbar, wenn wir diese Länder in der Flüchtlingsfrage allein lassen. Die Dublin-Regelung ist überholt. Und wir sind inzwischen schon weiter.

Die Bundeskanzlerin hat klargestellt, dass – zumindest – den Kriegsflüchtlingen geholfen werden muss. Und auch auf europäischer Ebene stellt man sich allmählich dieser Aufgabe, wenn auch nur mehrheitlich und in einem mühsamen, punktuell auch beschämenden Prozess. Die Hilfe für Flüchtlinge ist eine gesamteuropäische Aufgabe, die gemäß der Stärke der einzelnen Länder angegangen werden muss.

Vor allem aber, Anrede, sind die Menschen schon viel weiter. Viele Menschen in Deutschland, Österreich und anderen Ländern engagieren sich. Junge Leute aus vielen Staaten sind an die Brennpunkte in Südeuropa gefahren, dorthin wo Hilfe am dringendsten gebraucht wird.

Und geholfen wird natürlich auch in bei uns. Von Freiwilligen, Hilfsorganisationen und VerwaltungsmitarbeiterInnen, die mehr als nur ihre Arbeit machen. Besonders deutlich wurde dies, als vor wenigen Tagen in Wiesbaden äußerst kurzfristig Notunterkünfte eingerichtet werden mussten und die Helferinnen und Helfer z.T. bis in die Morgenstunden gearbeitet haben. Und schon seit vielen Monaten erleben wir zahlreiche Hilfsangebote und konkretes Engagement von Bürgerinnen und Bürgern, individuell oder organisiert wie z.B. im Flüchtlingsrat.

Ihnen allen schulden wir Dank und Anerkennung. Sie zeigen worauf eine demokratische Gesellschaft wesentlich gründet: Engagement, Bereitschaft und Solidarität mit Schwächeren.

Wir tragen daher insbesondere den I. Punkt 5, 2. Absatz des Antrags mit, auch wenn wir meinen, dass bei Lob und Dank der Stadtverordnetenversammlung nicht unbedingt der Magistrat an erster Stelle zu benennen ist, sondern die Bürgerinnen und Bürger. Es sollte nicht nach Selbstlob der politischen Klasse aussehen.

Wir stimmen auch ausdrücklich der Ächtung von Gewalt gegen Flüchtlinge und ihrer Unterkünfte zu. Allerdings sollte hier nicht nur gegen Gewalttätigkeit Stellung bezogen werden, sondern auch gegen jede Form rassistischer Äußerungen, Schmähungen und Stimmungsmache gegen Flüchtlinge. Für uns gehört auch die pauschale Abqualifizierung als Wirtschaftsflüchtlinge dazu.

Anrede, es ist darauf hingewiesen worden, dass sich unser Land und damit auch unsere Stadt durch die Ankunft der Flüchtlinge verändern wird. Dies wird nicht erst in Zukunft geschehen, dies vollzieht sich bereits.

Das Willkommen, die Hilfe und Unterstützung im ganzen Land sind bereits Teil dieser Veränderung. Es ist aber noch viel zu tun. Die Herausforderung umfasst nicht nur aktuell die Aufnahme und Unterbringung der Menschen, die zu uns kommen. Sie umfasst auch die Integration, d.h. es geht um langfristige Anstrengungen. Und dies ist eine Aufgabe für beide Seiten, für uns, die wir hier leben und für die Neubürgerinnen und Neubürger, die hier leben werden.

Anrede,

wir würden zu kurz greifen, wenn wir nur auf die Verhältnisse hier und heute bei uns schauen würden. Um die gesamte Dimension der Flüchtlingsthematik zu erfassen und um eine angemessene Perspektive zu eröffnen, müssen wir uns auch dem Thema der Fluchtursachen stellen. Dies ist sicher wesentlich eine Aufgabe der internationalen Staatengemeinschaft. Aber wir müssen auch sehen, was wir hier kommunal, was jede Bürgerin und jeder Bürger damit zu tun hat und was alle zur Problemlösung beitragen können. Hierzu müssen wir einen gesellschaftlichen Dialog in Gang setzen.

Es reicht nicht aus zu sagen, dass wir nicht alle Flüchtlinge der Welt aufnehmen können. Dies ist banal und in dieser dünnen Abstraktion richtig, obwohl wir auch nicht annähernd die Hauptlast tragen, sondern die Anrainerstaaten der Krisenregionen. Auch wenn der furchtbare Krieg in Syrien und der ganzen Region im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht – es gibt weitere Fluchtursachen, die wir bekämpfen müssen und können. Ursachen, an denen wir beteiligt sind und sei es nur durch wegsehen und dulden. Ursachen, die etwas mit unserer Lebens- und Wirtschaftsweise zu tun haben.

Wenn z.B. hochtechnisierte Fischereiflotten vor Afrikas Küste die Fischgründe leerfischen, werden dort Existenzen zerstört.

Und wenn die EU afrikanischen Staaten sog. Freihandelsabkommen aufzwingt, die unseren Exportinteressen dienen, aber zur Zerstörung die lokalen Wirtschaftsstrukturen dort führen – auch dann werden dort Existenzen vernichtet.

So tragen wir immer wieder zu Verhältnissen bei, die Menschen zur Flucht treiben. Es ist nicht damit getan, sie dann als „Wirtschaftsflüchtlinge“ abzuwerten und abzuweisen.

Die derzeit von Vielen benannte Herausforderung der Flüchtlingsfrage ernst zu nehmen heißt auch, sich mit unserer Lebens- und Wirtschaftsweise auseinander zu setzen. Heute haben wir es mit Menschen zu tun, die vor Krieg und Terror, vor Armut und Perspektivlosigkeit fliehen. Schon morgen werden wir es mit Klimaflüchtlinge zu tun haben, die ebenfalls um ihr Leben fürchten müssen.

Eine politische Diskussion, die diese Zusammenhänge in der Flüchtlingspolitik ignoriert, die nur die schwierige Lage hier und heute thematisiert und die in überholten Regelungen von gestern ihre Zuflucht sucht, ist nicht in der Lage den Problemen gerecht zu werden und zur Lösung beizutragen. Sie wird bei Symptomen stehen bleiben.Das ist aber zu wenig und das ist auch keine angemessene Antwort auf Unsicherheiten und Befürchtungen in der Bevölkerung.