23. Mai 2019

Rede von Claus-Peter Große zu „Vorbereitung eines Vertreterbegehrens zur CityBahn“ in der Stadtverordnetenversammlung am 23.05.2019

Es gilt das gesprochene Wort

Sehr geehrte Frau Stadtverordnetenvorsteherin,

liebe Kolleginnen und Kollegen,

ich starte gleich mit den drei wesentlichen Kernaussagen zum heutigen Themenkomplex:

  1. Bündnis 90 die Grünen sagen grundsätzlich ja zu einem Vertreterbegehren
  2. Vor Durchführung des Vertreterbegehrens muss dem weit verbreiteten Gerüchteunwesen die sachgerechte und umfassende Information entgegengestellt werden. Dies setzt eine fertiggestellte Planung, die Information hierüber und den Abschluss des übergeordneten Leitbildprozesses voraus. Nur so kann sich die Bürgerschaft ein umfassendes und objektives Bild machen. Dabei gilt: Gründlichkeit vor Schnelligkeit.
  3. Bündnis 90/ Die Grünen halten auf der Basis der uns vorliegenden juristischen Stellungnahmen beide Bürgerbegehren für unzulässig.

Punkt 1: Spricht für sich!

Wie sind wir zu diesen Schlussfolgerungen gekommen? Liebe Kolleginnen und Kollegen, mir ist es wichtig, eingangs uns allen noch einmal den Kern der Diskussion ins Gedächtnis zu rufen. Das Thema Stadt- oder Citybahn ist ja nun wirklich nicht neu, die ersten Vorschläge für die Nutzung der Aartalbahn als Straßenbahnbetrieb mit Anbindung der Wiesbadener Innenstadt reichen bis in die Jahre vor 1995 zurück. Der erste Ansatz wurde dann unter der Verkehrsdezernentin Hinninger unternommen, seinerzeit ebenfalls mit der Idee der Verknüpfung mit dem Rheingau-Taunus-Kreis. Denn schon damals bestand das Problem eines überaus starken Pendlereinstroms in unsere Stadt. Bis heute hat sich an der Problemlage nichts entscheidend verbessert: In Zeiten noch stärkerer Pendlerströme, eines überbordenden innerstädtischen Verkehrs und dem gesamten dadurch ausgelösten Problemfeld bis hin zum drohenden Dieselfahrverbot und der heute ja noch folgenden Diskussion zur Ausrufung des Klimanotstandes zeigt sich eine Zuspitzung der Gesamtsituation in vielerlei Hinsicht.

Einen wichtigen Teil der Lösung sehen wir nach wie vor darin, dass der Verkehr in Wiesbaden sich zukünftig viel stärker als heute möglich auf einen leistungsstarken, pünktlichen und komfortablen ÖPNV stützen soll und muss, um die Verkehrsmittelwahl vom Auto auf den öffentlichen Verkehr umzulenken. Alle neuartigen Ideen zu weiteren Verkehrsmitteln wie autonome Autos oder auch die Scooter sehen wir dabei maximal als Ergänzung an, wenn sie nicht sogar völlig unbrauchbar oder kontraproduktiv sind. Das zeigen beispielhaft erste Untersuchungen zum Beispiel zum Effekt von „Uber“ in San Francisco, wo diese Systeme zur Schwächung des ÖPNV und zu Mehrverkehr geführt haben. Das sieht auch die SPD in ihrem Antrag so: „die Citybahn stellt für das Wiesbadener Bussystem ein entscheidendes Rückgrat dar“ . . .

Trotz dieser an sich bestechenden Lösungsidee ist jedoch eine deutliche Ablehnung des Projektes in der Bevölkerung vernehmbar, die sich ja heute Abend im Vorliegen von gleich 2 Bürgerbegehren niederschlägt. Woher kommt sie genau?

Für mich sind dabei drei Faktoren bedeutend, die ich etwas tiefer beleuchten will.

Ich beginne mit dem übergeordneten Faktor:

Ich bin bei meiner Vorbereitung auf eine Studie des Soziologen Thomas Druyen mit dem Titel „Die ultimative Herausforderung – über die Veränderungsfähigkeit der Deutschen“ gestoßen, die mir einige wertvolle Hinweise gegeben hat, was sich in der Stadtgesellschaft abspielt. Ich möchte mit Erlaubnis der Stadtverordnetenvorsteherin wenige Sätze zitieren:

Um uns herum finden radikale Veränderungen statt, die auch Orientierungslosigkeit und Stress erzeugen. (. . .) Aber die dominierenden Reaktionen auf all diese Umbrüche sind: Abwarten, Adaption und Verdrängung. Auch die neue große Koalition und der Koalitionsvertrag bedienen eine enorme Sicherheitsorientierung.

und

Wir sind nicht veränderungsbereit. Wir sind Reaktionsweltmeister, aber wir sind völlig leidenschaftslos, wenn es um Prävention geht, um Antizipation, um Vorwegnahme kommender Herausforderungen.

Ich finde, damit ist die Stimmungslage nicht nur der Deutschen insgesamt, sondern eben auch in unserer Stadt sehr treffend beschrieben. Wir stehen an der Schwelle zu neuen Siedlungsgebieten, zu mehr Bebauung und damit mehr Menschen – 300.000 sind möglich! -und damit noch viel mehr Verkehr – 40.000 Fahrten mehr pro Tag sind denkbar. Und wie ist die Reaktion in der Öffentlichkeit? „Citybahn – Brauche merr net“ – „iih – Baustellen!“ – und „zu teuer“.

In der Wiesbadener Öffentlichkeit hat sich damit genau diese Grundhaltung als selbst ernannter „Bürgerwille“ etabliert, der sich in den beiden Bürgerbegehren manifestiert hat und letztendlich den Status quo und damit die Vorherrschaft des motorisierten Individualverkehrs festschreiben will. Denn Alternativen zur Citybahn werden ja nicht genannt. Es beschränkt sich dann auf Aussagen wie: „also wenn ich fahre, ist der Bus ja gar nicht voll“. Hier fehlt einfach der Gedankenschritt vom „ich will“ zum „wir brauchen“ – eben vom Privatbedürfnis zum Voranbringen der Stadt.

Punkt 2:

Aus der Studie „Leben in Wiesbaden 2018 – Fakten und Einstellungen zum Verkehr“ lässt sich sehr deutlich ablesen, dass die Wiesbadener Bevölkerung einen guten ÖPNV fordert. Die Befragten sehen es zwar zu knapp 50 % als vordringlich an, den Takt des öffentlichen Verkehrs zu verdichten und fordern zu einem ähnlich hohen Prozentsatz den Ausbau des Linien- oder Streckennetzes, geben aber nur zu 20,5 % den Bau der Citybahn als vordringlich an. Daran zeigt sich, dass die gedankliche Einordnung des Projektes „City-Bahn“ in den verkehrspolitischen Gesamtzusammenhang noch nicht oder nur unzureichend erfolgt ist. Das gilt nach unseren Beobachtungen auch für die Planung. Das muss dringend nachgeholt werden! Ich muss daher auch leider feststellen, dass es die finanzmittelstark ausgestattete Öffentlichkeitsarbeit von ESWE Verkehr bis heute nicht geschafft hat bzw. zu eng gefasst war, die Citybahn-Planungen in die notwendige Breite der Bürgerschaft zu tragen. Dadurch sind auch viele berechtigte Fragen aus der Bürgerschaft bislang nicht oder nicht ausreichend beantwortet worden. Viele Fragen beziehen sich auch auf Planungsdetails, die einfach noch nicht vorliegen. Daher müssen die Planungen schnellstmöglich den notwendigen Detaillierungsgrad erreichen!

Wir GRÜNE freuen uns natürlich über jedes bürgerschaftliche Engagement. Es ist für ein demokratisches Gemeinwesen unabdingbar, dass wichtige anstehende Entscheidungen breit diskutiert werden. Und es ist normal, dass dabei das volle Spektrum der Meinungen zur Äußerung kommt. Nicht mehr normal ist allerdings der Grad der Falschaussagen und der oftmals aggressive Umgangston, der in vielen Gesprächen und insbesondere im Internet zum Ausdruck kommt. Verbunden ist das zusätzlich mit dem massenhaften Auftreten der heute so weit verbreiteten fake news wie einer völlig abgeholzten Allee, dem Verlust sämtlicher Parkplätze entlang der Strecken oder, sehr beliebt, den riesigen Schotterflächen in der Stadt, auf denen die Bahnen dann verkehren soll. Gleichzeitig werden Menschen, die sich mit Richtigstellung der Fakten auf Seiten der Citybahn-Gegner äußern, gesperrt und damit von der Diskussion ausgeschlossen. Damit wird der Boden des demokratischen Diskurses verlassen.

Um den wilden Gerüchten und Falschbehauptungen, die von interessierter Seite massenhaft kolportiert wurden, adäquat entgegenzutreten, setzen wir auf Information über die Planungen und deren Folgen, und wir setzen auf den Leitbild-Prozess, der ein Bild vom „Großen Ganzen“ entwerfen soll. Er soll das nachholen, was – und das sage ich durchaus selbstkritisch – besser an den Anfang der Planungen gehört hätte: die Gesamtlage darzustellen, Alternativen zu Citybahn abzuprüfen (die ich allerdings aus heutiger Sicht nicht sehen kann) und den Rahmen einer Gesamtstrategie im Verkehr aufzuzeigen. Dafür brauchen wir allerdings nunmehr dringend einen Zeit- und Maßnahmenplan, was wir im Antrag von CDU und Grünen unter Punkt I darstellen.

Ich fasse zusammen: für eine sachgerechte Meinungsbildung der Bürgerschaft im Vorfeld eines Vertreterbegehrens benötigen wir 3 Voraussetzungen:

  • Eine Planung, die der Bürgerschaft verlässlich zeigt, was wo passieren soll, wie die Folgen sind und wie diese bewältigt werden
  • Einen Informationsprozess, der die Fülle an Information breit und verständlich transportiert und mit fake news aufräumt
  • Und einen Leitbildprozess, der die Planung vor dem Hintergrund der geplanten Entwicklungen in unserer Stadt begründet, Alternativen abwägt und die Einordnung ins „Große Ganze“ ermöglicht.

DANACH kann erst sinnvoll in einen sachgerechten Diskurs eingestiegen werden, der letztlich, und darüber sind wir uns einig, in einem Vertreterbegehren mündet. Ich weiß, dass die Bürgerschaft ungeduldig wird. Trotzdem gilt allerdings immer: Gründlichkeit vor Schnelligkeit! Genau so formulieren wir es im gemeinsamen CDU-Grünen-Antrag.

Und genau hier macht die SPD einen gravierenden Denkfehler: jetzt den Termin ins Zentrum der Überlegungen zu rücken anstatt darauf zu setzen, zunächst die von mir genannten Schritte im Interesse des – ich hoffe doch, gemeinsamen – Zieles zu erreichen, gefährdet letztendlich das Projekt und damit einen wesentlichen Baustein der Stadtentwicklung der nächsten Jahrzehnte.

Punkt 3:

Als wäre das alles nicht schon komplex genug, werden die Stadtverordneten bei einem weiteren Aspekt im Regen stehen gelassen: nämlich dem schwierigen juristischen Thema „Zulässigkeit der Bürgerbegehren“. Hierzu gibt es eigentlich in den Verfahren einen normalen, ja eigentlich standardisierten Ablauf: die Initiativen reichen ihre Begehren ein, die Rechtsämter prüfen und fertigen eine Stellungnahme zur Zulässigkeit. Dann beschließt die Stadtverordnetenversammlung. Wohlgemerkt: sie beschließt formal, nicht politisch motiviert.

Was aber passiert in diesem – auch noch extra komplizierten Fall: unser Rechtsdezernent legt eine „Oder“-Vorlage vor, die jetzt die – eigentlich juristische! – Entscheidung auf die ehrenamtlich tätigen Stadtverordneten verschiebt. Wir alle mögen jetzt entscheiden, ob die Begehren zulässig sind oder nicht! Dass jetzt jede Entscheidung von außen schnell als politisch motiviert gedeutet wird, kann ich niemandem verdenken. Fazit: durch dieses kontraproduktive Verhalten der Dezernatsleitung des Rechtsamtes rutscht die Entscheidung aus der juristischen Ebene in die Politik und setzt uns Stadtverordnete stark unter Druck. Da kann ich im Nachhinein nur froh sein, dass meine Fraktion eine eigene Stellungnahme hat fertigen lassen. Damit liegen uns heute juristisch starke Argumente als Entscheidungshilfe vor. Wobei ich mich schon wieder etwas fragen muss: wieso war das Rechtsamt nicht in der Lage, externe Expertise einzuholen?

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir Grüne kommen somit zu folgenden Schlüssen, was unser Abstimmungsverhalten betrifft:

A: zum Vertreterbegehren

  • wir stimmen grundsätzlich einem Vertreterbegehren zu
  • die Durchführung eines Vertreterbegehrens setzt drei Kernelemente der Bürgerinformation und Bürgerbeteiligung zeitlich und voraus:
  1. das Vorliegen einer Planung, die der Bürgerschaft vollständig Planungsinhalt, Folgenabschätzung und Problembewältigung zeigt
  2. die durchgeführte Information der Bürgerschaft darüber
  3. die Einordnung in das Leitbild des Verkehrs in Wiesbaden, verbunden mit vorausgegangener Bürgerbeteiligung zu diesem Themenkomplex mit Prüfung und Abwägung von Alternativen zur Citybahn
  • Es gilt der Grundsatz Gründlichkeit vor Schnelligkeit

B: Zur Entscheidung der Zulässigkeit vorliegenden Bürgerbegehren

 

Auf der Basis der uns vorliegenden juristischen Entscheidungshilfen werden wir beide Bürgerbegehren als unzulässig ablehnen.

 

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit